Schreib mal wieder | Kirsten Wendt

24 Feb 2021  Kirsten  6 minuten lesezeit.

Schreib mal wieder

Vor zwölf Jahren veröffentlichte ich einen Artikel über typische Ratschläge bei Migräne, der irgendwie in einem Migräneforum landete und virtuell durch die Decke ging. Das war ein sensationelles Gefühl für einen Schreibneuling wie mich. Ich war noch neu bei der Online-Plattform Suite101, die den Grundstein für meinen späteren Beruf legte – was ich allerdings nicht ahnte. Mein Geld verdiente ich seinerzeit als Vertriebsangestellte und schrieb anfangs nur nebenbei.

Die schlimmsten Migräne-Sprüche wurden wie verrückt angeklickt und bescherten mir nicht nur Extra-Moneten dank Onlinewerbung auf der Website, sondern auch meine allererste Fanpost. Ein fremder Leser namens Stefan – Migräniker wie ich – hatte sich extra bei Suite101 angemeldet, um mir eine Nachricht zu schicken. Er fand meinen Artikel toll und wollte das unbedingt persönlich loswerden. Wow, das ging runter wie öl! Fortan kloppte ich wie ein Wahnsinnige einen Beitrag nach dem nächsten raus, verkaufte einige davon an Zeitungen und veröffentlichte mein erstes Buch.

Seitdem ist viel passiert: Ich bin die Migräne losgeworden, hab den Vertriebsjob an den Nagel gehängt und wurde freiberufliche Autorin. Stefan ist kein Fremder mehr, könnte mir aber wirklich mal wieder Fanpost schicken, denn Leserpost liebe ich wie am ersten Tag.

Migräne: Ratschläge fast so schlimm wie hammerharte Schmerzen

Autogenes Training als Vorbeugung. Triptane gegen Schmerzen. Doch was tun gegen die klugen Tipps der Mitmenschen? Die schlimmsten Migräne-Sprüche.

Vorbei die Zeiten, als sich migränegeplagte Frauen als schlechte Stilvorlage für Altherrenwitze genötigt sahen. Heute gilt die Umwelt als aufgeklärt, und niemand glaubt mehr, dass ein Migräneanfall lediglich eine einfallslose Ausrede für sexuelle Unlust ist. Vielmehr meint ein jeder Bescheid zu wissen über die wahren Gründe für Migräne. Das fängt am Wochenende an, wenn die Schwiegermutter anruft und fragt, ob man denn schon wieder Migräne habe. “Du musst auch wirklich weniger arbeiten und mal mehr an dich denken.” Gesagt, getan, den Rest des Sonntags verbringt der Migränenkranke im Dämmerschlaf auf dem Sofa, immer begleitet vom schlechten Gewissen der Familie gegenüber. Andere Leute gehen jetzt spazieren, man selbst ist egoistisch und lebt seine Migräne in vollen Zügen aus.

Montagmorgens in der Früh ist die Migräne natürlich noch immer da, das teure Triptan schnell zur Hand, und nach zwei Stunden ist der Schmerz fast weg und die Müdigkeit dominiert. Abgeschlafft im Büro angekommen, begeht man einen folgenschweren Fehler und erzählt den Kollegen von der letzten Attacke. Und dann kommen sie:

Die zehn bekanntesten Sprüche, die kein Migräne-Patient hören möchte

  • Hast du es schon einmal mit Akupunktur versucht?
  • Bei meiner Nachbarin hat ja geholfen, einfach keine Schokolade mehr zu essen!
  • Du musst wirklich regelmäßig Sport treiben!
  • Bei so viel Stress ist das auch kein Wunder!
  • Ich bin mir sicher, dass du irgendein Lebensmittel nicht verträgst!
  • Es gibt da einen neuen Osteopathen, bei dem war meine Tante, seitdem ist die Migräne weg!
  • Ist logisch, wenn du letzte Woche ein Glas Rotwein getrunken hast, das rächt sich dann!
  • Warst du schon mal bei einem Heilpraktiker?
  • Trinkst du auch genug?
  • Das ist das Wetter, ich hab auch Kopfweh.

Da fühlt sich der Migräniker verstanden. Er mag es kaum noch erklären, dass er längst austherapiert ist, sämtliche schulmedizinische und alternative Heilmethoden ausprobiert hat, ein Heidengeld beim Chiropraktiker ließ und seit Jahren weiß, dass er schief und krumm ist, eine Sehhilfe benötigt, Stress hat und äpfel nicht verträgt. Die Brille sitzt, das autogene Training wird absolviert, die Einlagen getragen und Apfelkuchen gemieden. Aber die Migräne ist immer noch da.


Die weiteren Tage in der Woche schleppt sich der Patient tapfer durch seine Aufgaben, jeden Morgen ein neues Triptan einwerfend und hoffend, dass auch dieser Anfall irgendwann vorbei sein möge. Das private und berufliche Umfeld ist genauso ratlos wie man selbst, aber ein paar Sätze müssen noch drin sein:



Die zehn nervigsten Aussagen während eines Migräne-Anfalls

  • Du schluckst echt viel zu viel Tabletten, das kann einfach nicht gut sein!
  • Wenn meine Mutter früher Migräne hatte, konnte sie nur im abgedunkelten Zimmer liegen!
  • Solange du noch arbeiten kannst, kann es ja nicht so schlimm sein.
  • Leg dich doch mal kurz hin!
  • Geh doch mal an die frische Luft!
  • Dass du das so kannst, ich könnte das ja nicht!
  • Eigentlich siehst du ganz gut aus!
  • Ich hab neulich noch gesagt, dass es Gewitter gibt!
  • So kann man doch nicht Auto fahren!
  • Wenn du auch immer nur an die anderen denkst, bist du selbst schuld!

Am Ende der Woche ist es so weit, man löst das Rezept des Arztes ein für die medikamentöse Migräneprophylaxe. Viel zu lange hat man es hinausgeschoben wegen der Angst vor den Nebenwirkungen von Topiramat oder Topamax. Aber haben nicht alle, sogar der Chef, gesagt, dass man endlich etwas tun soll? Am Freitag verkündet man jenen, die es wissen müssen, dass man in den nächsten Wochen nicht ganz so gut drauf sein wird wegen der unwesentlichen Kleinigkeiten, wie zum Beispiel Depressionen, Halluzinationen, Doppelbildern, Wortfindungsproblemen und schwankendem Gang. Doch dann kommen sie:

Die zehn unglaublichsten Einwände, wenn man etwas gegen seine Migräne tun will

  • Das hilft doch nie im Leben!
  • Mit Tabletten doch nicht!
  • Du nimmst doch eh schon zu viel Medizin!
  • Also, ich wär ja noch mal zu einem anderen Neurologen gegangen!
  • Ein einfacher Urlaub hätte es auch getan!
  • Wieso bist du nicht zu dem Ayurveda-Arzt in Hamburg gegangen, den ich dir genannt habe?
  • Hast du zu viel Zeit?
  • Das kannst du doch deiner Familie nicht antun!
  • Na, ich weiß ja nicht, was unser Chef dazu sagt!
  • Wenn das vom Nacken kommt, würde ich einfach nur joggen!

Da hilft es nur ruhig zu bleiben und darauf zu hoffen, dass sich bald rumspricht, was Betroffene längst wissen: Der Grund für die Migräne ist die Migräne.

“„Man muss nur wollen“, stellt der Heilpraktiker fest. „Ich würde mal zum Osteopathen gehen“, rät die Freundin. über die richtige Behandlung bei Migräne meint wirklich ein jeder Bescheid zu wissen.”

Das bekommt auch Kalinka Nauer zu spüren, die sich auf die Suche nach dem richtigen Arzt und dem passenden Therapeuten macht. Sie lernt dabei attraktive Knochenbrecher kennen, stößt auf Pupillenspezialisten, die etwas Schlimmes in ihren Augen sehen und besucht Nervenärzte, die außer der Herausgabe von Kopfschmerzkalendern nicht viel zu bieten haben. Mitunter stellt Kalinka sich die Frage, was schlimmer ist: die Migräne selbst oder die klugen Ratschläge der Mitmenschen. Dabei will sie doch einfach nur ihre Schmerzen loswerden und ein ganz normales Leben mit Familie, Freunden und Job führen. Ihr Chef sieht das allerdings ein bisschen anders.






Ein Anruf in der lahmen Neurologen-Praxis ergibt, dass ich nicht einfach so anrufen kann. Doch ich bin zu schlapp und mein Kopf schmerzt zu sehr, als dass ich zwei Stunden Wartezimmer ertragen kann. Die Telefontante geht mir auf die Nerven. Was ist das für ein Schnarchverein dort? Ich möchte doch nur wissen, wie lange diese Depression noch andauert und ob ich davon ausgehen kann, dass die Wirkung gleich Null ist, wenn ich durchgehend Migräne habe. „Sind Sie suizidgefährdet?“, fragt sie mich jetzt allen Ernstes. Das weiß doch jeder, dass jene, die es ernsthaft vorhaben, es nicht ankündigen. Nur um die dusselige Kuh zu ärgern, sage ich matt „Ja“ und lege auf. Gleich darauf klingelt mein Telefon, doch ich gehe nicht ran. Es freut mich ein bisschen, dass Madame nun in Schweiß kommt, die Nummer meiner Schwiegereltern wählt und sogar Nachbarn ausfindig macht. Bevor alle in Panik geraten, löse ich auf und gebe mich geschlagen. Das Medikament schmeiße ich in den Mülleimer.